Seelentröster im Fellmantel
Eine Weihnachtsgeschichte von Odile Baumann

Coco lag mit ihrem Hund im Arm auf der Tagesdecke. Weil ‚Mr. Friendly‘- so könnte seine Charakterbeschreibung lauten – seine Nase an das Kopfkissen drückte, war sein Atem zu hören. „Meinst du, er hat mich lieb?“, fragte Coco ihre Mutter. Denn es war Mutters Bett, auf dem sie lagen. Genauer gesagt auf der „Tagesdecke“, die immer etwas schmuddelig war, weil Hund und Tochter drauf kuschelten, egal wie sandig das Kerlchen war.
Aber die Decke stammte aus England. Und die Engländer wissen, dass da ordentlich Füllwatte rein muss, unter die Baumwolle und die Blümchen obendrauf, damit eines – der Alltag, die Liebe und der Sand – und das andere – die saubere Bettwäsche – schön getrennt voneinander gemeinsam existieren können. Die Decke stammte von Cocos Tante, und die Blümchen waren über die Jahre und Wäschen schon kaum noch zu sehen.
„Ich weiß nicht, wo die ganze Liebe… für ihn, ne, woher – wohin – wovon….?“, dachte Coco laut. Der Hund nieste. „Wo du niest, kommen nur Regenbogen raus“, versicherte Coco ihm. Er antwortete nicht. Sie erwartete keine Antwort. Weder vom Hund noch von der Mutter.
„Meinst du, dass er ein schönes Hundeleben hat? Ich wünsche nur das beste für ihn.“ Coco küsste den Hund. Dann umarmte sie ihn wieder: „Oh mein Schnaftel!“ Sie küsste ihn auf die Stirn.
„Manchmal glaube ich, dass er gern bei dir bleiben würde, wenn ich nach Hamburg gehe.“ Die Mutter lachte: „Meinst Du wirklich, solche Gedanken passen in sein winziges Hirn? Und ich versuche, mich nicht an ihn zu binden. Denn bald seid ihr beide weg und das fällt mir im Bezug auf Dich schon schwer genug. Und ihn auch.“ „Vielleicht lasse ich ich ihn dir noch ein paar Wochen…“, überlegte Coco. „Nein“, sagte die Mutter bestimmt, „das kommt nicht vor.“
Coco war ungewiss: „Und wenn ich keine Wohnung finde.“ – „Sei unbesorgt, wir finden eine“, meinte die Mutter. „…dann würde ich dich heimlich rein- und rausschmuggeln“, sagte Coco zu ihrem in Fell genähten Freund, und wischte mit ihrem Gesicht durch sein seidiges langes Fell.
Sie schob seinen Po wieder auf das Bett, stand auf, umarmte ihn wieder. „Oh, ich lieb ihn so…Wie heißt diese Liebe auf französisch?“ Die Mutter grinste: „à la folie?“, sagte sie spöttisch. Coco war empört: „Nein, nicht bis zum Wahnsinn….“, behauptete Coco. „Nur bis zur Grenze davor, bis man wahnsinnig wird“. Noch einmal wurde der Hund umarmt. Er ertrug es geduldig, genoss es vielleicht. Blieb jedenfalls.
Als Coco die Treppe in ihr Zimmer hoch ging – in die Etage der Katzen und Kinder –, sah ihr der Hund nach wie ein Soldat, der gezwungen ist, das Tor weiter zu bewachen, während seine Liebste die Burg verlässt und vielleicht seinen Schutz dort „in der Fremde“ bräuchte. Doch der Ruf nach ihm kam nicht, und so rollte er sich zusammen, leckte seine Pfoten und streckte sich aus, um zu schlafen.
Im Schlaf zuckten Pfoten und Brust. Auch die Nase kräuselte sich. Ein schwerer, gleichmäßiger Atem war unterbrochen von leisen Tönen. Wovon mochte er träumen? Er war am Morgen aus dem Spiel ausgebrochen. Eine kleine Runde allein durch den Wald hatte ihm wohl gefehlt. Von seinem kurzen Abenteuer zeugten Dreck-Schlieren auf der Nase und gute Laune, als er nicht wie gewohnt zurückkam, sondern sich von hinten heranschlich, als wäre nichts gewesen.
In seiner Welt konnte er den Duft von Vanille in Fichten riechen und das Harz, mit dem man Fugen verschließt — doch wozu es gut war, davon hatte er keine Ahnung. Dem glücklichen kleinen Kerl war nur wichtig, was er grade erlebte. Und jetzt gerade waren alle da, die liebte. Sogar die Katze, die er nie sah, nur hörte, roch und gern gefangen hätte, um zu sehen, was man daraus macht.
Unwissend oder nicht: Hunde können auch ohne Kamin eine Stimmung verbreiten, als wäre der Kamin an, wenn sie schlafen. Sie wirken selbst wie einer. So spricht man in Spanien, wenn es kalt ist, vom „Sieben-Hunde-Winter“, weil nur sieben von ihnen warm halten können.
Als Coco nach Hamburg ziehen wollte, um zu studieren, kam ihr vierbeiniger Freund tatsächlich mit. Sie hatte ohnehin nie in eine Wohngemeinschaft ziehen wollen. Es war ganz und gar nicht einfach gewesen, eine Wohnung zu finden. Nah genug bei der Uni. Und eine, in der er geduldet wurde. Wie würde die Zukunft für beide sein?
Noch ein Weihnachten in Werden. Sie stellte sich vor, wie sie bei dem türkischen Laden in Hamburg, der offenbar viel Wert darauf legte, Obst und Gemüse einladend vor seinem Laden aufzubauen, einkaufen würde. Das war neben Schokolade sowieso ihr liebstes Essen.
Im Werdener Supermarkt kaufte sie, was noch für die Feiertage fehlte. Sie belauschte, wie dort ein Vater seiner Tochter erklärte, dass der schräge Spiegel über der Kasse dazu da sei, zu kontrollieren, ob jemand klaut. Doch die Verkäuferin an der Kasse nebenan sagte: „Nein, wir schauen nur, ob die Schuhe für Weihnachten gut geputzt sind. Das ist nicht nur an Nikolaus wichtig.“
Coco grinste, solche Begebenheiten hier mochte sie. „Ich möchte auch mal, dass mir in Hamburg der Briefträger bekannt ist. Und dann will ich auch, dass er zu Weihnachten von mir eine Kleinigkeit bekommt. So wie wir das hier machen.“
Die Wege Werdens waren ihr gut bekannt. Gleich würde sie den dunklen Tannenberg hochgehen und wie immer keine Angst haben. Ob ihr das in Hamburg auch gelingen würde? Sie dachte daran, dass ihr Freund auf vier Pfoten ein ziemlich beachtliches Gebiss hatte. Das beruhigte.
Und jemand, dem es wichtig war, und dass sie vielleicht weiter in Begleitung gehen würde – nun, das hatte sich kurz vor dem Fest ebenfalls angebahnt. Sie suchte nach einem, der sie wertschätzte. Einige seiner Bemerkungen hatten gezeigt, dass er das wollte. Den interessierte, wie sie sich kleidete, und dass sie Wert darauf und auf ihren Körper legte. Den es interessierte, ob sie hungrig war, Spaß haben wollte oder einfach gemütlich sein. Der eine Meinung hat, die interessant ist und ihrer folgt. „Toleranz ist der Verdacht, dass der andere Recht hat“, hatte ein Freund ihrer Mutter neulich gesagt; sie hatte gelacht.
Doch, ja es fühlte sich gut an und auch unsicher und peinlich. Und – Moment, da kam eine WhatsApp von ihm! Immer dieses Gefühl, ob er sie nicht vielleicht doch unvermittelt doof findet und vielleicht – oh Schreck –mitbekommt, dass sie und ihre Freundinnen auf nichts anderes warteten als ein Happy End.
Aber was, wenn nicht? Wenn es nicht klappte! Wenn es so schnell vorbei sein würde, wie es begann! Sie wagte es sich nicht vorzustellen. Ein Reinfall aus höchstem Hoffen.
Doch es ging auch anders: Der Rottweiler ihrer Tante fiel ihr ein. Dem würde nie einfallen, irgendwas anderes toll zu finden als ihre Tante. Sie war sich nicht sicher, ob sie so einen als Freund wollte, den sie als dumm wie Brot einstufte. Lieber wollte sie einen, der Spaß an Schneeengeln im Schnee hat. Und der, der so lange mit einem irgendwas unternimmt, bis man hungrig und müde ist. Oder der Artenvielfalt der Innenstadt mal ein paar Bemerkungen zollt. Der wissen will, an was man arbeitet, und die Möglichkeiten sieht, die es gibt. Ein kluger Freund – ebenso wie ein ihr Hund ein kluger Hund ist, der drei Türen öffnen konnte, die geschlossen waren.
Obwohl sie den Hund auch dafür mochte, dass seine Ohren sich wie Eierschalen um seinen Kopf legten, und er wie ein Ei aussah, wenn er sich für etwas interessierte. Man kann wirklich nicht sagen, was Liebe wirklich ausmacht.
Sie packte ihre Papiertüte und machte sich auf die dunkle Abkürzung nach Hause. Es gab gut beleuchtete Wege, aber sie waren länger zu laufen. Aber kurz und dunkel – das schien verlockender. Sie ließ den beleuchteten Parkplatz hinter sich. Autos schickten ihre eiligen Lichtergrüße an ihr vorbei. Schon begannen die Henkel der Papiertüte in ihre Hand zu schneiden. Zwei Tüten hatte sie sich gönnen wollen. Die ausgetretene Rundtreppe hoch, und dann die paar Windungen nach Hause – so war der Plan.
Welche Überraschung: Dort, in der Mitte, wartete ihre Mutter mit ihrem Hund auf sie. „Wir waren gerade die Runde und dachten, wir holen dich ab.“ Die unbändige Freude, die der Hund ausstrahlte, sie nach diesem Abenteuer, das gewaltig gewesen sein musste (einen Einkauf ohne ihn), wieder zu sehen, rührte sie immer. Alles an ihm wedelte, nicht nur der Schwanz. Er musste sich vergewissern, dass sie lebend, am Stück und unversehrt war, bevor er sich beruhigen konnte. Dann wandte er sich wieder seinen Schnupper-Erkenntnissen zu, die offenbar extrem fesselnd waren.
„Weihnachten mag ich lieber als Ostern“, sagte Coco. Die Mutter lächelte: „Und was wünscht du dir besonders?“ Coco antwortete: „Schnee – mehr als alles andere!“ Das weckte Erinnerungen: „Echt, naja, den hatten wir früher zu Genüge. Neun Monate Winter, einen Monat kalt und zwei Monate Sommer. Ich weiß noch, dass meine Mutter meine Schwester und mich nach dem dritten Mal, als wir voller Schneeklumpen und nass nach Hause kamen, ins Bad schickte, und wütend sagte, wir sollen die Sachen trocknen – und nicht eher wieder rauskommen. Auf die Idee, sie zu föhnen, kam meine praktische Schwester.“
Die Mutter stöhnte: „Wenn Du Schnee bis zur Hüfte hast und keine Pistenwalze, dann ist Skifahren nur auf den abschüssigen Straßen möglich. Oder im Tiefschnee, wo du immer stecken bleibst – und dann schön zu Fuß den Berg wieder hochläufst. Dann ist dir allerdings schön warm. Beim Rodeln ist das genauso. Wir haben versucht, unseren Dackel dazu zu bringen, den Schlitten bergauf zu ziehen, aber er blieb einfach stehen, egal, wie wir ihn lockten. Wir haben etwa hundert Iglus nicht fertig bekommen, außer den Grundmauern. Die haben wir aus in Putzeimern gestopften Bau-Schnee-Elementen gebaut, aber nie rausgekriegt, wie das mit der Kuppel geht. Wir haben Schneeball-Schlachten gemacht, die den Namen verdienen: Die Munition wurde vorgeformt, und dann gab es eine echte Schlacht. Wer sich nicht gut ducken und dabei werfen konnte, war verloren. Der Bauer, der um fünf seine Milch an die Straße mit dem Traktor fuhr, erlaubte uns, die Schlitten an seinem Traktor fest zu machen. Dass war das Beste am ganzen Tag: einmal bergauf gezogen werden.“
Coco schüttelte den Kopf, wie immer, wenn die Mutter erzählte, wie das Landleben auf 900 Metern Höhe so gewesen war.
„Was magst du an Weihnachten am liebsten?“, fragte sie zurück. „Das Licht“, antwortete die Mutter sofort. „Echt jetzt?“, fragte Coco, die Licht gewöhnt war. Die Mutter lachte: „Na ja, es ist so: Männer, kaufen Taschenlampen, bringen Scheinwerfer an, wenn sie was sehen wollen. Aber wenn du mal im Halbdunkeln vom Schlittschuhlaufen kommst, komplett durchgefroren auf dem wuppeligen Nicht-Kunst-Eis und Krähen kreisen im diffusen Himmel. Deine Hände sind eiskalt… und du liegst im Schnee… dann lernst du warmes Licht zu schätzen. Ich mag das Licht, das aus Häusern scheint, das von einem Lagerfeuer, einem Adventskranz ausstrahlt, wenn dazu vorgelesen, und gesungen wird und eine Kleinigkeit aus dem Adventskalender abfällt. Ich mag es, wenn es warmes Licht ist. Wie das, wenn Du die Haustüre öffnest, und jemand ist schon drin – oder du hast es dir einfach selbst angelassen.“

Coco hätte jetzt lieber den Hund an der geflochtenen Leine gehabt als die Einkaufstasche in der Hand. Aber genau deshalb fragte sie, um sich abzulenken: „Und was war das schönste Licht, dass du je gesehen hast?“ Die Mutter schüttelte den Kopf: „Das kann ich nicht sagen: Ich mochte das Licht in der Krippe, einer, die wir mit meinem Vater aus einer Wurzel gebaut haben. Überhaupt das Licht in meinem Elternhaus. Ich mochte die Verabredung mit einem Freund, dass wir bei der zweitletzten Kerze am Baum aneinander denken. Und unser Weihnachtsbaum war riesig, da musste man schon warten. Und ich mag das Licht, das ich in unserem Haus geplant habe.
Das hellste Licht, das ich je sah, war bei keinem Feuerwerk. Es war, als wäre da nur das Licht und ich – als ich einmal dachte, ich würde lebendig verbrennen. In der Realität sah alles für mich danach aus: Kein Ausweg, alles dumpf und Flammen. Und dann war ein anderes Licht, das war stark, wärmend, beruhigend und bereit, mich aufzunehmen. Wenn du das erlebt hast, hast du keine Angst mehr vor dem Tod, was dich betrifft. Aber immer noch das Gefühl, dass andere, die dich lieben, dich vielleicht nicht so leicht aus ihren Gedanken, Herzen und ihrer Trauer lassen. Weil sie dieses Licht nicht abbekommen. Das ist der Teil an Weihnachten, der irgendwie schade ist. Aber vielleicht der Grund, warum es neben Licht eben auch die Fantasie und Freiheit der Gedanken gibt. Wenn man sie nutzt. Und deshalb mag ich den Gedanken an Ostern vielleicht doch lieber, obwohl ich dir Recht gebe, dass Weihnachten seinen eigenen Zauber hat.“
Coco war nun doch erstaunt: „Wieso, Ostern feiern wir doch nie so ausgedehnt?“. Die Mutter lächelte wieder: „Na ja, aber wir verstecken immer noch süße Sachen für euch, die ihr finden müsst, oder?“ Coco sah sie an, als sei sie verrückt. Ihr Blick sagte: „Damit sollte Ostern mit Weihnachten konkurrieren können – mit ein paar Eiern und einem kleinen Geschenk?“ Wo war die lange Zeit der Steigerung, der Planung, der Vorbereitung, der Innigkeit, der Absprachen, das Sich-Fragens – eben alles, was an Weihnachten Spaß macht?
Die Mutter sah auf den Weg, als sie antwortete: „Wir verstecken Dinge, die ihr finden sollt. Ein kleiner Hinweis, dass Suchen sich lohnt. Irgendwann aber wird alles sein wie der Frühling: anders, neu, voll Leben, im Fluss, leicht. Genau da soll es doch es doch hin, das Leben: auf der einen wie der anderen Seite. Da bin ich mir gewiss. Es kann und soll so sein, weil uns genau das von der Natur vorgelebt wird.“
Nun waren sie über die Treppen zwischen Dingerkusweg, Graf-Lückner-Höhe und der Hildegrimstraße fast zuhause.
„Irgendwelche Wünsche fürs Abendessen?“, fragte die Mutter. „Na ja, keine ‘Lichtsuppe’, wenn’s geht. Und ohne Frühlingszwiebeln“, antwortete Coco spöttisch. „Ist gut“, sagte die Mutter. Und das Licht im Eingang war wohltuend und viel zu hell. Und der Hund schüttelte sich: Mission erfüllt, die Menschen nach Hause gebracht. Lass sie doch reden, es gibt eindeutig Wichtigeres.